Wendezeit oder Zeitenwende

Die Eigentums-Demokratie im Kulturkampf mit der Besitz-Tyrannis

Wer ist „schuldlos und doch schuldig“ an der Menschenwelt und ihrem Werden ?, fragt Sophokles in der Tragödie: Antigone: „Der Mensch!“ Er sei ein Wesen, das sowohl seine Welt erfinden, als sie auch wieder stürzen kann!

„Der Mensch“ ist mithin ein Schöpfungswesen seiner Freiheit, wie auch ein Gründungswesen seiner Abhängigkeit. Denn ohne die Menschenwelt, in und durch die er geboren wird , gäbe es ihn nicht. Das ist seine paradoxe Abhängigkeit von der Welt! Aber ohne seine Freiheit, ständig neue Bereiche erobern und verändern zu müssen, kann er in dieser Welt nicht weiterleben. Das ist seine paradoxe Unabhängigkeit.

Am Umstand in die Welt geboren zu werden, ist er „unschuldig“. Am Umstand in der Welt nur leben zu können, wenn er Praxis macht, wird er „schuldig“. Das ist der erste und der zweite Sinn von Sophokles` Spruch von der „schuldlosen Schuld“ des Menschen an seiner Welt.

Auf beiden Wesensmerkmalen des Mensch-werdens baut die Demokratie auf. Durch sie sind wir sowohl zur Freiheit veranlasst, als auch zum Kampf gegen den Raub dieser Freiheit und die Beraubung unseres Eigentums gezwungen.

Die Demokratie ist ihrem Wesen nach das Welt-System der Verantwortung für die eigensinnige Freiheit ihrer Bürger und steht damit gegen das System der besitzergreifendenBeraubung. Diese fundamentale Differenz zur Besitz-Tyrannis jedweder Art vergessen, verdrängt oder gar geleugnet zu haben, macht uns Demokraten heute „schuldig,“ und wir sind deshalb „nicht unschuldig“ an der katastrophalen Lage der gegenwärtigen menschlichen Kultur.

Der bürgerliche Defätismus

Tatsächlich scheint die Lage der Welt katastrophal zu sein, doch sind die Weltprobleme grundsätzlich lösbar. Im Angesicht der ungeheuren menschlichen Möglichkeiten zu Freiheit und zum Wohlstand verderben wir die Chancen zu deren Lösung durch die tatsächliche Verschwendung von Menschenleben und Ressourcen. Das bereitet den Boden, auf dem die Weltuntergangs-Stimmungen des bürgerlichen Defätismus gedeihen. Er hat viele von uns zur Überzeugung gebracht, sie seien unlösbar: Doch wer zu wissen glaubt, dass die Probleme unlösbar sind, der erzeugt den Glauben an die Unlösbarkeit, weil er weiß, dass es nur die Niederlage gibt. Das Resultat ist die Fatalität unserer Niedergangs-Gesinnung.

Damit verleugnen wir nicht nur die Anerkennung des realen Wohlstands dieser Welt. Der defätistische Glaube, nicht Täter, sondern immer nur Opfer zu sein, erzeugt das Gejammer vom Opferdasein. Als Opfer eines schicksalhaften Weltverhältnisses ist man „machtlos“ wie „schuldlos“. Der Opfer-Ideologie ohne Lüge oder Verdrängung ins Auge zu sehen, wäre schon der erste Schritt zur Überwindung der Niedergangs-Gesinnung. Tatsächlich ist die Demokratie die am weitesten entwickelte Form der menschlichen Kultur. Von ihr und ihren freiheitlichen Lebensverhältnissen träumt jener Teil der Menschheit, der unter dem Joch ihrer Tyrannen lebt. Diese erste Wahrheit verdrängen wir, obgleich niemand von uns dort leben möchte – vice versa – denn jeder von uns weiß um die Lebensqualität unserer demokratischen Lebenswelt. Dies ist die zweite Wahrheit . Doch die Egoisten in unseren Reihen interessiert weder diese Realität, noch kümmert sie die Welt da draußen! Sie möchten sich doch nur „in der besten aller Welten“ – möglichst ungestört von der Welt da draußen – einrichten!

Doch hier kommt die dritte Wahrheit ins Spiel: Die Weltverhältnisse haben sich umgekehrt. Es gibt kein Draußen und kein Drinnen mehr, weil niemand sich heute aus der globalisierten Welt ohne Folgen ausschließen kann. Doch durch die Ironie des Schicksals oder die „List der Vernunft“ (Hegel) werden wir alle zur Demokratie gezwungen! Warum? Weil die Bürger die Demokratie nicht aufgeben können, denn mit ihrer Umsetzung steht oder fällt die Existenz der menschlichen Zivilisation und Kultur. Denn ihr Kern besteht aus der Gemeinschaft von Eigentümern, die ihre Freiheit und ihr Eigentum verlieren, wenn es die Freiheit und die Demokratie nicht mehr gibt: Das ist meine Grundthese!

Der Wesenskern des Freiheitsparadoxes besteht nun darin, dass es gerade die EnteignerPutin und Xi Jinping – unserer Freiheit sind, die uns zur Demokratie zwingen! Das ist die vierte Wahrheit: In jenen Ländern, in denen die Besitzergreifung der Tyrannis gelingt, siegt die „Hinterlist der Unvernunft“ und damit auch die Enteignung ihrer Bürger. So entsteht auch für unsere defätistischen Egoisten eine paradoxe Abhängigkeitvon ihrer Demokratie! Ohne die eigene Freiheit zusammen mit den anderen Mitbürgern zu verteidigen und zu erweitern, wird auch der egoistische Bürger seinen Eigensinn nicht ausleben können. Folglich leben die Egoisten in einer paradoxen Unabhängigkeit . Sie sind von derDemokratie abhängig, die sich als freiheitliches System gegen den tyrannischen Oberegoisten Putin verteidigt. Der Neozarismus führt uns täglich vor, wie er die Enteignung seiner Bürger organisiert und wie er die Besitzergreifung seiner Oligarchie durchsetzt. Für die egoistischen Bürger heißt das: Wenn sie nicht von der Tyrannis abhängig werden wollen, so müssen sie ihre Abhängigkeit von der Demokratie erkennen und auch Verantwortung übernehmen.

· Die Welt und ihre Bürger stehen folglich am demokratischen Scheideweg und stecken doch gleichzeitig auch in einem weltpolitischen Dilemma.

Der Scheideweg im Kulturkampf: Die städtische Demokratie (pólis) hat die Tür der Zeit durch ihre umwälzende Technik und Organisation mit der Ersten Moderne in Athen und Rom geöffnet. Dort hat der Mensch als Bürger (polítes) die demokratische Stadt gegründet. Die Stadt macht die Bürger zu Tätern ihrer politischen Ordnung, wie zu Opfern ihrer technischen Zivilisation. Die städtischen Zeitverhältnisse erzeugen mit ihren Zeiträumen eine neue Eigenwelt . In ihr sind die Erfinder die Erfinder ihrer Erfindungen – technisch gesehen – und die „Regierenden die sich selbst Regierenden“ – politisch gesprochen.

In der Zweiten industriellen Moderne hat die westliche Zivilisation die Welt erobert. Die Industrie gab dem Westen die Macht der Zerstörung des Alten durch die Erfindung der modernen Naturwissenschaft und der rationalen Techniken in die Hand (Max Weber). Diese Verbindung steigerte noch einmal die Paradoxie der menschlichen Schöpfung und der „kreativen Zerstörung“ (Schumpeter). Die Erfolge der Industrie- und Massengesellschaft sollten uns zum Bewusstsein der „selbstverschuldeten“ Verantwortung führen. Dieses kapitalistisch-technische Zivilisationssystem bestimmt uns weltweit. Es wirkt als Menschheits-System in jedem Einzelnen, weil niemand sich seiner ökonomischen und politischen Wirksamkeit entziehen kann.

In der Dritten Moderne – der digitalen Wissensgesellschaft – treffen wir auf das Phänomen der Vernetzung aller Lebenswelten. Die alte Paradoxie von der „schuldlosen Schuld“ erneuert sich unter digitalen Wissens- und Konsum-Verhältnissen: Jeder Bürger wird, ob er es will oder nicht, tagtäglich zur „kreativen Schöpfung“ von Information und Wissen gezwungen. So werden wir zu „schuldlosen“ Tätern einer Macht und zu Schöpfern einer unentrinnbaren „Schuldigkeit“ am Weg unserer Kulturentwicklung. Aber wieder schaut uns die Schuldigkeit über die unschuldige Schulter der Zeit, die uns mitnimmt. Wir sind doch nicht Niemand , sondern Jemand, nicht hilflose Frau und hilfloser Mann, sondern Erzeuger einer Welt, die es nur durch und in unserer Verantwortung gibt. Wir setzen Töchter und Söhne in die Welt, für die wir als Eltern eine Zukunft schaffen wollen. Das kann nur eine demokratische Ordnung aller für alle sein. Spätestens jetzt sind wir gezwungen zu erkennen: Der Bürger als demokratisches Wesen ist ein Eigentumswesen seiner Selbst und seiner Gesetzgebung! Verteidigt der Bürger seinen Eigenwert nicht, dann existiert er als Demokrat nicht! Dann wird er zum leibeigenen Tauschwert in der Neo-Zaristischen Tyrannis oder zum roboterhaften Gebrauchswert im Neo-kommunismus in China.

Damit stehen wir in der fünften Wahrheit: Der demokratische Westen hat die Eigentumsfrage als die strategische Trennlinie zur Besitz-Tyrannis –im Kalten Kriegaufgegeben . Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems und der Restauration des Neo-Zarismus hat der Westen diese Trennlinie wieder nicht erkannt. Darin besteht unsere „geschichtliche Schuld“. Sie hat uns weltweit in das gegenwärtige Dilemma geführt.

· Wir haben die zivilisatorischen Mittel entwickelt sowohl zur Nutzung und zum demokratischen Gebrauch, aber auch zum Missbrauch zu antidemokratischen Zwecken.

· Wir haben den Zweck der Freiheit der Weltkultur verkauft und das Ziel des „Gelingens des gemeinsamen Lebens in dieser Welt“ aufgegeben.

· Stattdessen reden wir ständig vom „Misslingen der demokratischen Zivilisation und Kultur“, obgleich wir alle das „gelingende Leben“ suchen.

· Mit dem Gerede vom Weltuntergang wird die „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ (self-fulfilling prophecy) zu einer selbstzerstörerischen Praxis und damit zu einer wirklichen Wirksamkeit. In diesem Gerede bündelt sich die Ideologie des bürgerlichen Defätismus.

Das weltpolitische Dilemma

Doch die Tragödie unseres bürgerlichen Defätismus bemerken wir nicht, weil wir in unserem Haben-wollen nur an die zivilisierte Welt der Wohlstands-Dinge denken und deshalb sagen:

– „Wenn alle so leben wollen wie wir heute, dann gibt das unsere Erde nicht her!“

Was steckt hinter solchem Reden? Einmal nehmen wir – richtigerweise – an, dass alle so leben wollenwie wir jetzt leben. Gleichzeitig aber sagen wir, dass nicht alle so leben können. Warum: Weil wir in unserem Lebens- Willen das Lebens- Ziel der Wohlstands- Dinge verwirklicht haben. Und hier wissen wir, dass dieser Weg für die Erde nicht tragbar ist. Trotzdem wollen wir dieses Ziel auf keinen Fall aufgeben. Wie bei einer Fata Morgana spiegeln wir die historischen Ansprüche unserer Gegenwart in eine geschichtliche Zukunft. Unsere Lebenswelt soll zukünftig wieder so werden, wie sie jetzt ist: Doch die Welt wird nicht so sein, wie sie heute ist, sondern werden, wie sie einmal wird!

Was ist der Fehler? Das historisch-rückwärtsgewandte Denken ist unser Grundfehler! Mit ihm sitzen wir in einer Gedankenfalle, denn die Zukunft war nie wie ihre Vergangenheit. Zukunft ereignet sich immer als Geschichte die geschieht. Auch im Weltenspiel werden die Würfel von den großen und kleinen Mitspielern an jedem Tag und in jedem Spiel neu geworfen.

Hier stehen wir in einem zweiten Dilemma aus dem wir uns, um der Zukunft willen, befreien müssen. Dabei hilft uns kein Gott und kein Tyrann. Wir müssen als „schuldlos Schuldige“ zur Erfindungsfähigkeit des Prometheus greifen. Sie hat uns in diese zivilisatorische Lage gebracht. Es ist die paradoxe Wahrheit des Fortschritts, dass wir uns mit jenen Mitteln befreien müssen, die uns unsere Zivilisation als Instrumente zur Verfügung stellt: Und wer sagt uns, dass wir durch unsere Erfindungsfähigkeit nicht zu einer humanen Technik finden, die uns den Weg aus dieser Falle weist, in die wir nun durch unsere Zivilisation geraten sind? Die moderne Umwelttechnik zeigt uns doch den Weg!

Auch unsere Zeitenwende erzeugt eine paradoxe Lebenswelt. Sie war und ist eine Zwischenwelt, belastet mit dem Wunsch nach der „guten alten Zeit“. Der hat noch immer mit dem primitiven Konsumwunsch für alle zum Stillstand geführt. Der Stillstands-Mensch dieser, wie jeder früheren Zeit, wollte und will nicht teilen. Aber da gibt es einen Umstand der für diesen Wunsch zur Falle wird. Einmal ist die Erde weder zu teilen noch zu vermehren. Schon die Extraktion des Materials aus dem Reichtum der Erde, das wir zur Herstellung unseres Wohlstandes mittels der Dinge in der Weltbenötigen, hat uns an „natürliche Grenzen“ geführt (Club of Rome). So rinnt uns der „Wille zur Macht“ wie Sand durch unsere Hände. Auf paradoxe Art und Weise zeigt uns die Zwiespältigkeit der technisch organisierten Zivilisation das Wesen der Zeitenwende.

Die Macht der Wendezeit

So entsteht aus dem Zwiespalt der technisch-instrumentellen Vernunft die Macht der Wendezeit . Wenn uns die Dinge und der Wohlstand nicht retten, dann rettet uns nur die vorsorgende Vernunft. Sie öffnet uns die Augen für die Absurdität der Konsumausweitung bei gleichzeitigem Wunsch nach dem Stillstand der Verhältnisse. Das Unwesen dieses Wunsches erzeugt eine in sich widersprüchliche Lebenswelt: Hier stoßen wir wieder auf die „List der Vernunft“ als die „List der Welt“. Sie erzeugt in ihrem Wesen die Macht und die Wirksamkeit zur geschichtlichen Transformation der Welt. Ihr kann sich Niemand entziehen, weil wir der Jemand selbst sind, der sie erzwingt. Zu allen Zeiten war es die Sorge und Vorsorge um unsere Zukunft, die eine Notlage und gleichzeitig die Notwendigkeit erzeugte, die Not dieser Lage wieder zu wenden !

Hier müssen wir lernen, die unveränderbare „Schuld“ der Vergangenheit anzunehmen. Wir sind nun einmal hier und können jetzt nicht aus unserer Gegenwart ausbrechen. Wir sind die Erben und stehen in der Mitte der Zeit.

Sie entsteht aus der Schöpfung einer „verantwortlichen Schuldigkeit“ für eine humane menschliche Welt. Die sorgenvolle Lebenslage verlangt die Einsicht in die Änderung unserer Lebens-Praktiken, durch die wir nicht nur reagieren, sondern auch agierensollten. Für eine zukünftige humane Existenz braucht es eine demokratische Kultur des Mit-anderen-Teilens , des Mit-anderen-Erfindens, des Mit-anderen-Tragens an der Eigentumsschaffung. Es gibt keine zukünftige Lebenswelt unserer Kultur, ohne die Wende zu einer Kultur des „gelingenden Lebens“ in der sich die Bürger zu Eigentümern ihrer Selbst machen.

Wenn es einen „Stein der Weisen“ gibt, dann hat die schöpferische Demokratie ihn in ihrer Verantwortungs-Gemeinschaft erfunden. Es ist der Anspruch an und auf die Erfindung der Freiheit, des Eigentums und des Eigensinnes. Das ist das Wesen der demokratischen Revolution.

Auf diesem Weg zu einer demokratischen Weltgemeinschaft gilt es auf die Begrenztheit der Ressourcen der Erde zu achten, sie selbst als unsere Heimat zu würdigen und dieses Haus nicht zu überlasten. Es gilt die Welt in einen Ort zu verwandeln auf dem es eine Lustist zu leben und keine Last. Aber dafür gibt es seit alters her eine Bedingung: „Vor den Erfolg haben die Götter – die wir selbst sind – den Schweiß und den Fleiß gesetzt!“ Nur die Tüchtigkeit jedes Einzelnen befreit uns aus dem Dilemma von Fortschritt und Freiheit. Denn die Freiheitsmittel schlagen dann gegen uns als Instrumente zu unserer Unterdrückung um, wenn wir sie der Konterrevolution überlassen. Nur die Teilhabe am Reichtum der Erde und die Teilnahme an der politischen Verantwortung für den Frieden der Welt öffnet den Weg zur Auflösung der scheinbar antagonistischen Krisen: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Nur das Angebot des demokratischen Friedens für die Welt führt zur Lösung des Dilemmas. Das Beste, das wir gegen die Besitz-Tyrannis aufbieten können, ist das Angebot der Eigentums-Gemeinschaft.

Fürstenfeldbruck 27.08. 2023©

Dr. Xaver Brenner

Es handelt sich bei diesem Essay um das Vorwort meines Buches, das im Verlag: Königshausen & Neumannim Herbst 2023 geplant ist.

Titel:

Wendezeit oder Zeitenwende

Die Renaissance der Demokratie des Eigensinnes
Philosophische Essays zur Dritten Moderne

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